Einmal Großer St. Bernhard bitte…
Auf wessen „Bucket List“ steht sie nicht – eine Alpenüberquerung mit dem Rennrad? Seit ich vor einigen Jahren in Torre Pellice am Fuße der Cottischen Alpen Urlaub gemacht hatte, keimte in mir der Wunsch, dies von Basel aus einmal selbst zu versuchen und die kleine Stadt im Westen des Piemont aus eigener Kraft zu erreichen. Markante Wegpunkte sollten der Genfer See, der Große St. Bernhard Pass und Aosta sein. Dieses Jahr bot sich die Gelegenheit, und ich schlug zu. Hier ist Heinz sein Bericht…
Tag 1
Unverschämtes Glück ist auf meiner Seite, und 5 sonnige Etappen mit insgesamt 5900 Metern Höhengewinn über 518 Kilometer verlaufen buchstäblich ohne Pleiten, Pech und Pannen. Unter blauem Himmel geht’s durch das städtische Gewusel Basels hinaus ins Schweizer Hinterland. Und herauf auf den Höhenzug des Jura, eine erste Bergwertung. Wenn ich ein Quäntchen Pech habe, dann mit der Extremhitze, die gleich am ersten Tag für Schweiß ohne Ende und nach 100 Kilometern fast für einen Hitzschlag sorgt. Einem klimatisierten Dorfladen mit Kaltgetränken sei Dank, dass ich mich berappeln und mein erstes Hotel planmäßig erreichen kann. Hinterher erfahre ich, dass ich bei bis zu 36 °C geradelt bin.
Tag 2
Tag 2 hat die Romandie, den frankophonen Teil der Schweiz, im Angebot. Kuhglockengeläut und Ziegengemecker begleiten mich auf saftig grünem, aber hügeligem Terrain, das sich über 120 Kilometer und 1200 Höhenmeter erstreckt. Ein erstes Highlight – die Serpentinen hinab zum Ostufer des Genfer Sees, der Montreux Riviera. Mediterraner Fahrtwind weht in meinen Haaren, ein Glücksgefühl stellt sich ein. Die 6 Kilo Gepäck in meinem Rucksack drücken mit aufs Tempo. Entlang geht es am Seeufer; über mir absolviert ein Düsenjäger der Schweizer Luftwaffe akrobatische Manöver in wenigen hundert Metern Höhe. Alle um mich herum recken ihre Hälse zum Himmel – mir geht es ob des krachend lauten Spektakels und der 100 Kilometer in den Beinen eher darum, schnell in mein zweites Hotel und unter eine kühlende Dusche zu kommen.
Tag 3
Der Berg ruft. Ausgeruht geht es erste 35 Kilometer die Rhone entlang gen Süden nach Martigny, einer schicken Kleinstadt, die den Ausgangspunkt für die knapp 44 Kilometer lange Strecke zum Pass bildet. Leider ist es ein Montagmorgen, und insbesondere die ersten Kilometer sind aufgrund beengter Spurbreite, die LKWs und Autos nur zu gerne mit mir teilen, etwas nervenaufreibend. Dann aber breiten sich die ersten Täler vor mir aus und die Straße wird angenehm breit. Glatter Asphalt, phänomenale Blicke und Temperaturen um die 24 Grad lassen die erste Hälfte, wenn nicht im Flug, dann doch in Sender-gestählter Routine vergehen.
Dreiviertel der Strecke habe ich bereits geschafft, Euphorie und Erschöpfung halten sich die Waage. Bald durchfahre ich eine endlos lange Galerie – einen Lawinenschutztunnel mit Ausblick. Eine Baustelle im Tunnel sorgt dafür, dass Autos vor dem Tunnel lange warten müssen; ich fädele meine Einfahrt und eine Pause so ein, dass ich die rechte Spur nur für mich habe. Die Zeit beginnt, sich zu dehnen, und nach dem Tunnel kommt der Tunnelblick. Für Radfahrer heißt es jetzt, rund 2000 Meter hoch und 6 Kilometer vor der Passhöhe, die Zähne besonders fest zusammenzubeißen. Kurzgezogene Serpentinen mit 10 bis 14% Steigung rufen die letzten Körner ab, Willenskraft ersetzt Muskelkraft. Es herrscht nahezu kein Verkehr, und ich fahre Serpentinen auf den Serpentinen. Die letzte Gelegenheit, Wasser zu fassen, liegt schon eine Stunde zurück, und ich rationiere meine letzten Schlucke. Schwere Frage: eine dritte volle Flasche gegen zusätzliches Steiggewicht? Aber nun taucht sie doch auf – die letzte Kurve mit Blick auf das markante Hospiz mit seiner weltbekannten Bernhardiner-Zucht. Kraftmäßig auf den Hund gekommen, stärke ich mich ein letztes Mal zu Schweizer Preisen mit einem Kaltgetränk und posiere für ein Passfoto – Social Media, Here I am.
Und weil bergauf auch bergab bedeutet, sind die letzten 30 Kilometer nach Aosta mit durchschnittlich 6% Gefälle noch einmal Freude pur. Fühlt sich so Motorradfahren an? Anders als bei Chris Froome verrichten meine Scheibenbremsen ihre Aufgabe klaglos; ausgelaugt, aber happy und in einem Stück komme ich in Aosta an. Dass sich meine Unterkunft als die bislang am wenigsten begeisternde herausstellt, ist mir nach diesem Tag mehr als egal – wichtig ist, dass auch diese Dusche heiß und kalt mit ordentlich Druck müde Geister wieder munter macht.
Tag 4
Die Schweiz und den Pass im Rückspiegel, heißt es nun, aus dem Aosta-Tal hinaus ins landwirtschaftlich geprägte Piemont zu fahren. Da Aosta selbst recht hoch gelegen ist, beginnt Tag 4 mit knapp 50 Kilometern leichten Gefälles entlang des Flusses Dora Baltea, die Beine freut’s. Zwar stiehlt sich die Straße noch einmal kurz den Nordhang des Tales hoch, belohnt dafür aber mit einer letzten schnellen Abfahrt, bevor sich das Piemont vor mir ausbreitet. Strava steuert mich noch weitere 30 Kilometer am Rand der Südalpen entlang bis kurz hinter Ivrea; steil geht es hinauf zu meinem Etappenziel – einem Bergdorf mit dem schönen Namen Colleretto Giacosa, in dem ich unerwarteterweise sehr nobel unterkomme. Das historische Anwesen hat einen großen Pool und das Dorf einen leckeren Italiener, sodass ich dort auch gerne meinen anschließenden Ruhetag verbringe.
Tag 5 – Ruhetag :)
Tag 6
Das Ziel vor Augen stehle ich mich in aller Frühe aus dem Hotel. Fürs Frühstück bleibt außer Nescafé und ein paar Früchten auf dem Zimmer keine Zeit, da für das über 100 Kilometer entfernte Torre Pellice, meinem Zielort, Regen angesagt ist. Nein danke, da will ich vorher ankommen. Daher düse ich auf größtenteils verkehrsarmen Landstraßen durch bäuerlich geprägtes Land Richtung Südwesten. Zwar lasse ich Turin links liegen – gleichzeitig aber auch viel Zeit, da ich in den Vororten der Metropole in den Berufsverkehr gerate. Irgendwann bin ich hindurch, und weiter geht’s auf die Zielgerade. Ein letzter Stopp in Pinerolo für einen Espresso, ein paar letzte Kilometer leichter Steigung in zunehmender Hitze, und ich stehe vor dem Ortsschild meines Ziels. Torre Pellice – ein ums Jahr 1000 gebauter Wohnturm auf einem Hügel über dem Fluss Pellice. Und der Regen? Der kommt erst am nächsten Tag.